Über Form und mechanische Leistung (D'Arcy Wentworth Thompson)

20.03.2021

"In biologischer Hinsicht müssen wir immer daran denken, daß unser Knochen nicht nur eine lebende, sondern auch eine äußerst plastische Struktur ist; die kleinen Knochenbälkchen werden fortwährend ausgebildet und deformiert, zerstört und von neuem gebildet. Hier kann man für einmal mit Bestimmtheit sagen, daß nicht die "Vererbung" auf den Plan gerufen zu werden braucht - und es auch nicht werden kann - , um die Gestaltung und Anordnung der Knochenbälkchen zu erklären; denn wir können zu jeder Zeit des Lebens beobachten, wie sie unter der unmittelbaren Tätigkeit und Kontrolle der Kräfte entstehen, denen das System ausgesetzt ist. 

Wenn ein gebrochenes Bein so zusammenheilt, daß seine Teile etwas verschoben sind und dementsprechend die Druck- und Zuglinien anders verteilt sind, wird man schon nach wenigen Tagen sehen, daß das Trabekelsystem vollständig neu gestaltet worden ist und sich so dem neuen Kräftesystem anpaßt. Wie Wolff betonte, erstreckt sich diese Rekonstruktion auf weit vom Sitz der Verletzung entfernte Gebiete und kann somit nicht als bloßer Zufall während des physiologischen Prozesses der Heilung und Wiederherstellung angesehen werden; es kann zum Beispiel vorkommen, daß nach dem Bruch des Schaftes eines langen Knochens das Trabekelsystem ganz verändert und auf der ganzen Strecke zwischen den weit auseinanderliegenden Enden neu aufgebaut worden ist." (In >Über Wachstum und Form<, S. 338)