Der Baum in Indien (Rumi)

20.01.2024

Ein Gelehrter sagte einmal, nur um etwas zu sagen:

"Es gibt einen Baum in Indien.

Wer die Frucht dieses Baumes isst,

wird niemals alt und stirbt auch nie."


Geschichten über "Den Baum" machten die Runde.

Schließlich schickte der König einen Gesandten los,

um in Indien nach dem Baum zu suchen.


Der Mann wurde ausgelacht.

Die Leute klatschten ihm auf den Rücken und riefen:

"Sir, wir wissen, wo Ihr Baum ist.

Er ist allerdings tief im Dschungel.

Und Sie werden auch eine Leiter brauchen."


Der Gesandte folgte all solchen Hinweisen,

jahrelang reiste und reiste er,

und dabei fühlte er sich wie ein Narr.


Gerade war er dabei, zum König zurückzukehren,

da traf er auf einen weisen Mann.

"Großer Lehrer, gebt mir einen freundlichen Rat

für die Suche nach diesem Baum."


"Mein Sohn, das ist kein üblicher Baum

obwohl er so genannt worden ist.

Manchmal wird er auch "Sonne" genannt,

manchmal "Ozean", manchmal "Wolke".


Die Worte deuten auf jene Weisheit hin,

die durch einen wahren Menschen strömt.

Sie kann viele Wirkungen haben.

Ewiges Leben ist davon die gewöhnlichste.


Ebenso kann zwar eine Person Dein Vater sein,

aber sie ist auch der Sohn eines anderen

und der Neffe von noch jemand anderem.


Was Du also suchst, hat viele Namen und ein Wesen.

Suche nicht nach einem der Namen.

Beweg Dich außerhalb jeder Fixierung auf Namen.


Jeder Krieg und Konflikt unter Menschen entstand

wegen unterschiedlicher Meinungen über Namen.


Das ist alles so unnötig und dumm.


Denn gleich jenseits all dieser Streitereien

ist der lange Tisch der Gemeinschaft gedeckt

und wartet darauf, dass wir Platz nehmen." 


(Rumi, Das Eine Lied, übersetzt von Christoph Engen nach den Versionen von Coleman Barks, Arbor Verlag)